Vorgeschichte

Zur Entstehungsgeschichte der Radolfzeller Narrengarde

von Michael Fuchs

Warum in der Geschichte der Fastnacht immer wie-der militärische Formationen auftauchen, ist auf den ersten Blick nicht unbedingt einleuchtend, wird aber verständlich, wenn man sich die historischen Zusammen- hänge genauer ansieht. Im 19. Jahrhundert hatte sich das karnevalistische Treiben aus dem Rheinland auch im südwestdeutschen Raum verbreitet. Zuvor hatten einflussreiche Kölner Bürger 1823 durch ein „Festordnendes Komitee“ das ausschweifende Fastnachtstreiben so erfolgreich zum „schönen“ Karneval reformiert, dass dieser nicht nur Einfluss auf rheinische Städte wie Düsseldorf, Aachen oder Mainz hatte, sondern auch auf die gesamte schwäbisch-alemannische Fastnacht einwirkte. Dadurch zogen auch in die Radolfzeller Fastnacht für lange Zeit Narrengarden und sogar Prinz Karneval ein. Aus dem„Rothen Buch“ der Narrizella Ratoldi ist zu erfahren, dass 1844 zum Radolfzeller Fastnachtsumzug neben dem närrischen Hofstaat ein Blechmusik-Bataillon, Militär aller Art und auch eine Ranzengarde erschienen sind.

Die vom Karneval inspirierten Umzüge bekamen im 19. Jahrhundert einen zunehmend patriotisch und national gesinnten Einschlag. Der Hintergrund dieser Entwicklung lag im Sieg Deutschlands gegen die Franzosen im Krieg von 1870 und der Reichsgründung von 1871, die zu gro- ßer Begeisterung für alles Militärische führten. Uniformen standen dadurch hoch im Kurs, was sich auch auf das Erscheinungsbild der Fastnacht auswirkte. In frühen Fotogra- fien tauchen immer wieder Abbildungen mit närrischen Soldaten auf, wie beispielsweise auf dem großen Bild rechts oben, das um 1900 entstanden ist. Hier ließ sich eine große Truppe vor dem Gasthaus Schwert (heute Pro Se- niore) fotografieren. An dem Ort also, an dem traditionell der Narrenbaumumzug in Richtung Innenstadt beginnt. Vergrößert man den Bildausschnitt, auf dem ein Offizier zu sehen ist, entdeckt man verblüffende Übereinstimmungen mit der im 20. Jahrhundert gegründeten Narrengarde der Narrizella Ratoldi. Allerdings sind die Kopfbedeckungen der Soldaten auf dem Foto um 1900 bunt durcheinander gewürfelt. Neben Pickelhauben und Tropenhelmen stan- den einigen Männern nur die weißen Schutzbezüge der Pickelhauben zur Verfügung.

Sowohl die Uniform – sind die weiße Hose, die Kordel (Schützenschnur), die von der linken Schulter herunter läuft, und die Rangabzeichen am Arm – wie auch das Exerzieren mit dem Gewehr ähneln in verblüffender Weise dem Auftreten der heutigen Narrengarde. Einen viel direkteren Einfluss auf das äußere Erscheinungsbild der Garde muss allerdings ein anderer Sachverhalt gehabt haben: Als sich die Gründungsmitglieder bereits vor 1933 insgeheim im Gasthaus „Walfisch“ trafen und die Planung für die Narrengarde voran trieben, war die Gestaltung der Uniform ein wichtiger Punkt in ihren Überlegungen.  Man kannte zwar die Reichenauer Bürgerwehr von zahlreichen Besuchen in Radolfzell und eine gewisse Verwandtschaft zu deren Uniform ist sicher unbestreitbar.

Doch gab es ein Anschauungsobjekt direkt in Radolf- zell, das offenbar einen viel größeren Eindruck auf die zukünftigen Gardisten gemacht haben muss.  Im Radolfzeller Heimatmuseum war seit langer Zeit die Uniform eines „Stadtgardisten“ ausgestellt, dessen Ähnlichkeit zu dem heutigen Narrengardisten kaum zu leugnen ist.  Der Tschacko (Hut), die weiße Hose und die Uniformjacke mit hohem Kragen dürften die Gründer der Garde sicherlich fasziniert haben – zumal dieser Stadtgardist als realer Vorfahr der närrischen Einheit angesehen werden konnte.  Die neuen Narrengardisten fertigten für ihren ersten Auftritt im Jahr 1933 folglich keine Phantasieuniformen an, sondern beriefen sich auf ein lokales, geschichtliches Motiv.

Ähnlichkeit: Uni- form um 1900 und Gardeuniform in den 1930er Jahren
Eine Narrengarde mit Gardetrommlern anfang des 20. Jahrhunderts vor dem Gasthaus Schwert (Heute Seniorenheim Pro Seniore)