Schon in den Anfängen war der Narrenspiegel wichtiger Bestandteil im Programm der Gardisten
von Rainer Alferi
Trotz der Namensänderungen ist diese Veranstaltung nicht nur an der Fasnet sondern auch im kulturellen Jahreskalender der Stadt Radolfzell die publikumswirksamste Veranstaltung. Bino Linder hat mit seinen Assistenten Ossi Auer und Arnold (Noldi) Schäuble etwas geschaffen, das nach 75 Jahren nicht mehr aus der Radolfzeller Fasnet wegzudenken ist. Was hat sich nun in der Zeit von 1933 bis 2008 verändert? Wenn man es genau betrachtet, eigentlich nichts Grundlegendes. Nach wie vor sind die Inhalte – wenn man von der Narrenschelte absieht – ausschließlich ortsbezogen, die Themen werden szenisch auf die Bühne gebracht, und auch die bis ins kleinste Detail hervorragend gestalteten großen Kulissen sind ein prägendes Merkmal des Narrrenspiegels geblieben. Da die Darsteller (bis auf wenige Ausnahmen) aus Gardisten bestehen, sind alle Akteure männlichen Geschlechts, was besonders für die weiblichen Rollen einen besonderen Reiz des Narrenspiegels darstellt.
Schon Bino Linder hat zur ersten Aufführung eine Kulisse mit einer technischen Meisterleistung geschaffen, die durch ihre Drehtechnik für jede Szene ein anderes Bild ermöglichte. Heute ist es Udo Biller – früher angeleitet von seinem Vater Gagi – der es versteht in Form von Prospekten (Hintergrundbild) und Versatzstücken die Szene und damit das Publikum nach Vorgabe der Texter an die Radolfzeller Originalschauplätze zu versetzen. Doch zurück zu Bino Linder. Das im Original vorhandene Textbuch zur 1. Fastnachts - Revue entspricht noch heute der textlichen Gestaltung unserer modernen Szenen, die im Radolfzeller Dialekt geschrieben sind und natürlich auch im Dialekt vorgetragen werden. „Wär`s it verstoht, hot halt Pech ghet.“
Wie bereits erwähnt werden auch heute noch auf Radolfzell bezogene Themen szenisch närrisch dargestellt. Dazu gehört es die darzustellenden Personen möglichst originalgetreu auf die Bühne zu bringen. Viele erinnern sich noch an OB Fritz Riester, dargestellt von Werner Baur, und OB Neurohr, dargestellt von Rainer Alferi, Horst Gabele, Franz Bromma und Guido Flaig. Unser derzeitiger OB Dr. Jörg Schmidt hat in Andy Fiedler einen beinahe perfekten Doppelgänger gefunden. Auch die Gemeinderäte und städtischen Mitarbeiter wurden und werden durch die Kunst der Maskenbildner – Hans Fritz, Hugo Hamma, Josef und Harald Guhl und jetzt Nicole Bohner und Anja Waldraff – als täuschend echte Originalpersonen dargestellt.
Natürlich mussten und müssen die Bürgermeister, Oberbürgermeister, Gemeinderäte und die Abteilungsleiter der Stadt für kommunalpolitische Themen herhalten. Nicht immer zu ihrer Freude, da die Narren ihre eigenen Vorstellungen zu den Themen haben und auf dem alten „Rüge recht des Narren“ bestehen. Auf die massive Kritik eines Bürgermeisters über seine Darstellung meinte vor Jahren Karl Bücheler: „Wenn de emol numme im Narreschpiegel kunnscht, denn muesch der Gedanke mache“.
Das szenische Programm wird durch Einzelfiguren ergänzt. Unvergesslich bleibt Karl Bücheler als „Rebbauer Norbert Stoß“. Viele Jahre war er nicht aus dem Narrenspiegel wegzudenken. Ihm gelang es viele Begebenheiten der Bürgerinnen und Bürger ans Tageslicht zu bringen. Nicht immer zur Freude der Betroffenen aber zur Unterhaltung der Besucher. Sepp Rapp – jahrelang Regisseur – vertrat dann Bücheler als „Karoline vum Krankenhaus“. Die „Bürgerin“ – dargestellt von Sigi Kromer – ist heute der Alefanz in Person und glänzt mit ihren aktuellen letzten Informationen aus dem Rathaus.
Eine weitere Einzelfigur ist der Kappedeschle, der die mit spitzer Feder geschriebene Narrenschelte vorträgt. Bruno Epple hatte 1965 die Idee eines Solovortrages, in dem sowohl Kommunalpolitisches wie auch Regionales und Bundespolitisches zum Vortrag kommt. Zuerst trat er als „Mann mit der Geige“ auf, bevor er dann 1969 in`s Häs des Kappedeschle schlüpfte. In dieser Figur wird heute noch die Narrenschelte von Lothar Rapp vorgetragen. Große Szenen mit tollen Bühnenbilder kamen auf die Bühne, z. B. Seebad, Scharfes Eck, 1000 und 1 Nacht, der Sonnenkönig und Moulin Rouge, um nur einige zu nennen. Neben den Sprachszenen entwickelten sich vor einigen Jahren großartige musikalische Auftritte durch die Seefunkgruppe. Von diesen Gardemusikern werden kommunalpolitische und regionale Themen auf bekannte Lieder und Schlager umgetextet. Jedes Jahr gehört dieser Auftritt zu den Höhepunkten im Narrenspiegel.
Bis zum Jahr 1993 fanden die Aufführungen im Scheffelhof statt – der guten Stube der Narrizella Ratoldi . Im alten Scheffelhof, vor 1960, gab es keine Garderoben für die Akteure. In der Kegelbahn neben dem großen Saal zogen sich die Gardisten um und wurden geschminkt. Karl Bücheler veranstaltete dort immer einen „Kontra-Narrenspiegel“, wenn er als Stoß vor dem Spiegel mit sich selber sprach. Einige Viertele waren dabei immer im Spiel. Die Bühne im Scheffelhof erlaubte fast alles. Hier einige Beispiele: Ein riesiges Wasserbassin wurde für die Szene Seebad aufgebaut. Das Wasser kam lauwarm, transportiert durch die Feuerwehr, vom Milchwerk. Motorräder fuhren durch den Saal auf die Bühne; sogar ein 500er Fiat wurde irgendwie auf die Bühne gebracht. In den 60er Jahren wurde der Scheffelhof umgebaut. Die Kegelbahn kam in den Keller und für die Reinigung der geschminkten Gesichter wurden „Künstlergarderoben“ mit fließendem kalten (!) Wasser eingerichtet. Erst später wurden Warmwasserbehälter unter den Waschbecken installiert – Luxus pur! Dann 1994 der Umzug in die neue Stadthalle „Milchwerk“. Alles war anders. Hinter der Bühne gab es Garderoben mit Duschen und WC und einen Schminkraum mit Rundumspiegel.
Das war das Angenehme und Einfache, alles andere war eine große Herausforderung für die Akteure. Das fing an mit der riesigen Bühne: alle alten Prospekte und Versatzstücke waren viel zu klein. Auch durften in den Bühnenboden weder Nägel eingeschlagen noch Theaterbohrer eingedreht werden. Die Entfernung der Bühne zu den hinteren Sitzreihen ergab für das Publikum Ton- und Sichtprobleme. Aber die Gardisten sprudelten nur so vor Ideen, wie sie die neue Halle optimal nutzen könnten. Die Bühne wurde auf die Seite verlagert ohne Vorhang und nur mit einer Kulisse, die übrigen Bilder sollten mit Dia-Projektoren an die Wand produziert werden. Es blieb allerdings bei diesem einen Versuch und man kehrte reumütig auf die vorhandene Bühne zurück. Zwischenzeitlich hat man alles im Griff, angefangen von einer weiter entwickelten Tontechnik über Video-Projektion bis zur ausgefeilten Lichttechnik.
Trotz der vielen großartigen technischen Weiterentwicklungen ist der ursprüngliche Charakter des Narrenspiegels aber bis heute erhalten geblieben. Der Narrenspiegel der Narrizella Ratoldi ist eine Veranstaltung, die zwischenzeitlich weit über die Grenzen der Stadt bekannt ist und trotzdem noch den Charme des beschaulichen Radolfzell`s bewahrt hat.